Rund 20 Jahre später
im März 1972: In Bayern herrschte damals Lehrernot. Deshalb
kehrte ich nach einer 12 jährigen Erziehungspause in den
Beruf zurück und übernahm eine 3.
Klasse (Schwangerschaftsaushilfe) in meinem Wohnort
Eichenau. Die 46 Schüler/innen dieser Klasse begeisterten
mich. Sie waren aufgeschlossener, wortgewandter, kritischer und
auch gesünder als die unterernährten Nachkriegskinder.
Ich staunte aber nicht wenig über die miserablen
Grundkenntnisse, vor allem im Lesen und Schreiben. Ein
Drittel der Kinder konnten gut lesen , zwei Drittel aber mehr
oder weniger mangelhaft und zwei Kinder,
ein Bub und ein Mädchen, konnten noch
nicht lesen und das nach 2 ½
jährigem Schulbesuch! Ich besorgte mir zwei
Lesekästen und übte täglich mit den beiden
fünf bis 10 Minuten, während die übrige Klasse
eine Stillarbeit fertigte. Nach sechs
Wochen konnten die beiden lesen. Die Eltern dieser Kinder
waren erstaunt und dankbar. Sie hatten schon die Hoffnung
aufgegeben.-
Zunächst dachte ich, dass diese Klasse viel
Lehrerwechsel gehabt oder sonst eine Beeinträchtigung
erfahren hätte.- Aber meine Kolleginnen sagten: „Was
wollen sie denn? Das ist bei uns auch nicht anders. Das sind
halt Legastheniker.“ Damals hörte ich diesen Begriff
zum ersten Mal. Ich besuchte einen Vortrag, konnte aber damit
wenig anfangen. Ich war brennend neugierig geworden und ging zu
meinem Rektor und fragte ihn, ob ich im September eine erste
Klasse übernehmen könnte. Es klappte.
Ich unterrichtete weitere 18
Jahre Schulanfänger. Alle
diese Mädchen und Buben -ohne Ausnahme- erlernten
bei mir in 6 bis 20 Wochen lesen und richtig schreiben.
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